"Die Italienerschleife"

Bau - Zerstörung - Verfall – Wiederherstellung der Floridsdorfer Hochbahn

Ein Bericht von Reg.Rat Helmut Kuntner

Wien, die Haupt- und Residenzstadt der Donaumonarchie entwickelt sich um die Jahrhundertwende zu einem bedeutenden Zentrum des Schienenverkehrs. Bahnlinien aus den verschiedenen Kronländern enden in Wien in sogenannten Kopfbahnhöfen, die jedoch untereinander nicht entsprechend verbunden sind, was den Austausch von rollendem Material im Frachtverkehr nur über Umwege möglich macht und zeitraubende, zusätzliche Verschubfahrten erfordert.

1911 enden in Wien folgende Strecken:
Franz Josefsbahn
   Einzugsgebiet: Südwestliches Böhmen über Eger, Norddeutschland und Abzweigung nach Prag, Verschubgruppe im Bhf.-Bereich und Heiligenstadt.
Westbahn (Kaiserin Elisabeth Westbahn)
   Einzugsgebiet: Salzburg, Frachtgleise in Wien West und Penzing.
Südbahn und Pottendorfer Linie
   Einzugsgebiet: Triest und Westungarn, Frachten-Bhf. Matzleinsdorf und Wr. Neustadt.
Aspangbahn
   Einzugsgebiet: Südl. NÖ und Steiermark, Verschubgruppe im eigenen Bhf.
Nordbahn
   Einzugsgebiet: Brünn, Ostrau-Karwin (Kohlenrevier), Krakau, Lemberg, Ostgalitzien, Bukowina und Rumänien. Frachten-Bhf. Wien -Nord, Verschiebe-Bhf. Floridsdorf, seit 1908 Güter-Bhf. Straßhof (Umleitung von Kohlenzügen).
Nordwestbahn
   Einzugsgebiet: Südmähren, Znaim, Ostböhmen, Elbetal, Tetschen, Dresden, Berlin, Frachten-Bhf. Nordwestbahn.
Ostbahn
   Einzugsgebiet: Ostl. Böhmen, Dresden, Berlin, Ungarn, Frachten- Bhf. Erdbergerlände und Stadlau
Donauuferbahn   Verschiebe- und Verladeeinheiten Bahn - Schiff

Zwischen den Kopfbahnhöfen bestehen im Raum Wien zu dieser Zeit die Verbindungen Penzing - St. Veit - Matzleinsdorf (zw. Westbahn - Südbahn -Pottendorferbahn) und Penzing - Heiligenstadt (zw. Westbahn und Franz Josefsbahn) mil Anschluß an die Donaulände- und Donauuferbahn. Eine im Jahr 1910 konstituierte Bahnhofskommission legt am 22. Juni 1911 den Behörden Pläne für ein Gesamtkonzept für Umfahrungsstrecken vor, das den über Wien laufenden Gütertransit ohne Anfahren der Kopfbahnhöfe vorsieht. Neben einigen Strecken am rechten Donauufer (Simmering- und Praterausweiche) sind 3 Projekte angeführt, die nach Ansicht der damaligen Strategen unerläßlich sind, um den Güterverkehr in und um Wien zu organisieren.


Strecke der Floridsdorfer Hochbahn (rote Linie)

1) Die Verbindung der Station Jedlersdorf an der Nordwestbahn mit der Station Leopoldau an der Nordbahn.
2) Die Verbindung von Neu-Süssenbrunn (Nordbahn) über Breitenlee nach Marchegg.
3) Die Verbindung von Gerasdorf (Ostbahn) über Breitenlee nach Marchegg.

Am 16. Nov. 1915 - im ersten Weltkriegsjahr - schaltet sich das k. u. k. Kriegsministerium ein und  fordert unverzüglich für die Errichtung der projektier- ten Umfahrungsstrecken Sorge zu tragen, weil es  immer wieder zum Rückstau von Güterzügen mit  kriegswichtigen Gütern kommt. Durch die unzureichenden Schienenverbindungen im Raum Wien sei  die reibungslose Versorgung des Militärs nicht sichergestellt. Die Verbindungsschleife Jedlersdorf - Leopoldau wird zum kriegswichtigen Bau erklärt. Zur raschen Umsetzung des Planes bietet das Ministerium Kriegsgefangene zur Durchführung der Bauarbeiten an. Schon im Mai 1916 können die Bauarbeiten beginnen. Aus dem Lager Sigmundsherberg werden 6.000 italienische Kriegsgefangene in neu errichtete Lager in Leopoldau und Breitenlee verlegt. Die vorgesehene Bauausführung als Hochbahn verspricht eine schnelle, mit den damaligen technischen Mitteln mögliche Fertigstellung des Projekts.

Einschlägige Erfahrungen mit dem Bau von Viadukten konnte man bereits bei der Wiener Vorortelinie und Stadtbahn sammeln.
Die knapp 4,5 km lange Strecke wird über 114 Bogenviadukte mit 14 Metern Spannweite und einer Pfeilerhöhe von 3,5 Metern errichtet, die Gesamtlänge der Viaduktstrecke beträgt 2.198 Meter mit 5 Öffnungen für Brücken über die Brünnerstraße (33,6 m) und die Trasse der Nordbahn (53,3 m) in Eisen-Fachwerkausführung und 3 weitere Brücken mit 22 m und 2 zu je 25 m. Der Rest der Strecke sind Dammaufschüttungen zur Auf- und Abfahrt zur Viaduktstrecke im Bereich Jedlersdorf und Leopoldau.

Zur Herstellung der Viadukte wird Stampfbeton verwendet, der mit einfachem technischen Gerät in die Schalungen eingebracht wird. Ein Großteil des Betons muss händisch gemischt werden. Bereits am
1. Dez. 1916
kann die Strecke dem Verkehr übergeben werden.

Um zu ermessen, welche Leistungen von den italienischen Kriegsgefangenen bei diesem Bau unter schwierigsten Arbeitsbedingungen erbracht werden mußten, ist es wichtig, einige Daten zu erwähnen:

Bauzeit: 7 Monate 6.000 italienische Kriegsgefangene leisten 264.000 Tagschichten Gesamtbaukosten: (Stand 1916) 4 Mio. Kronen

Erdbewegungen: 67.300 m3 (Transport auf Loren 600 mm Feldbahn)
Betonverarbeitung: 41.000 m3
Kunststeine für Verkleidungen: 10.000 Stück zu 240-300 kg, bewegt und gehoben auf max. 7m Höhe
Schienen: 8.10O m verlegt
Eisenmaterial: 40 Waggons für Befestigungen, Geländer etc.
Gleisschotter: 6.300 m3 (1.000 Waggons)
Schwellen: 620 m3 für Bahn und Brücken

Nach dem 1. Weltkrieg und dem Zerfall der Monarchie ist ein deutlicher Rückgang des Frachtverkehrs mit den ehem. Kronländern die logische Folge der neuen politischen Verhältnisse. Die Hochbahn bleibt weiterhin in Betrieb. Bis 1922 wird noch am Gesamtkonzept der Wiener Umfahrungsstrecken gearbeitet. Während des 2. Weltkrieges wird die Hochbahn wieder zur kriegswichtigen Verbindungsstrecke im Raum Wien. 1944 ist der Industriebezirk Floridsdorf Zielgebiet der alliierten Bomberflotten. Bei zahlreichen Luftangriffen auf die unmittelbar benachbarten Industrieanlagen wird auch die Hochbahn schwer beschädigt. 1945 sprengen deutsche Truppen im Zuge der Kampfhandlungen mit der Roten Armee die Brücke über die Trasse der Nordbahn. Die Güterzugschleife ist damit endgültig unterbrochen.
1947 wird die Sanierung und der Wiederaufbau der Strecke bewilligt, die Bauarbeiten werden aber wegen Materialmangels nicht mehr durchgeführt. Statt dessen wird eine ebenerdige Umfahrungsstrecke errichtet, die im Bereich der Brünnerstraße eine niveaugleiche Kreuzung mit der Straßenbahnlinie 331 hat. 1949 wird die Brücke über die Trasse der Nordbahn wieder hergestellt.
1959
wird die ebenerdige Umfahrungsstrecke wieder demontiert.1960 werden die noch brauchbaren Stahlbrücken der Hochbahn demontiert und anderwertig verwendet.
Die Brücke über die Nordbahn findet keine Verwendung, bleibt an ihrem Platz und muss 1961 im Zuge der Elektrifizierung um 1 Meter gehoben werden. 1962 geht die Stammstrecke Floridsdorf - Meidling der Wr. Schnellbahn in Betrieb. Güterzüge können nunmehr über die Trasse der Schnellbahn durch Wien gefahren werden. Das steigende Verkehrsaufkommen und der geplante Bau des Zentral- Verschiebebahnhofs Kledering (ZVB-Wien) machen Maßnahmen für einen zukunftsorientierten Güterverkehrsablauf im Großraum Wien erforderlich. Am 5. Sept. 1970 wird im Schienenverbund-Vertrag zwischen dem Bund und dem Land Wien u.a. die Wiederherstellung der Hochbahn als Vertragsbestandteil aufgenommen. Erst am 22. Dez. 1992 wird der Schienenverbundvertrag in eine endgültige Fassung - den Wiener Vertrag gebracht. Unter Ausbau der Schnellbahnstrecken wird festgehalten: ... ist die Reaktivierung der ehem. Hochbahn Jedlersdorf - Leopoldau, wodurch die notwendige Verlegung von Güterzügen zur Erhöhung der Frequenz im Bereich der Schnellbahnstammstrecke erreicht werden kann. Damit wird auch eine Verringerung des Lärmproblems erreicht. Die Investitionserfordernisse werden auf der Preisbasis von
1. Jan. 1992 auf 360 Mio. ATS geschätzt (in diesen Kosten sind die ÖBB-Eigenleistungen nicht  enthalten). Auf der Basis der Vertragsfassung beginnen umfassende Planungs- und Vorarbeiten für die  Reaktivierung der Güterzugschleife. So wird am 12. Feb. 1995 die alte Nordbahnbrücke wegen zu geringer Tragfähigkeit und fortgeschrittener Korrosion abgebaut und zerlegt. Als durchschnittliche Frequenz  für die Güterzugschleife werden in 24 Stunden 28 Güterzüge, davon 16 Züge von 6-22 Uhr und 12 Züge von 22-6 Uhr erwartet. Die Vmax soll 70 km/h betragen. Schallschutz und Auflagen des Denkmalschutzes bei der Sanierung und Wiederherstellung zerstörter und schwer beschädigter Viadukte müssen eingeplant werden. Nach dem Abschluss der Bewilligungsverfahren und einer europaweiten Ausschreibung der Baumeisterarbeiten beginnen am 2. Sept. 1996 die Bauarbeiten. Die Gesamtstrecke der zu restaurierenden Schleife (Hochbahn und Dämme) beträgt 4.368 Meter, die Länge der Viaduktstrecke 2.128 Meter (im Jahr 1916: 2.198 Meter).
Die Viaduktbögen sind zu sanieren,
9 Viaduktbögen sind neu zu errichten.
3 Stahlbrücken (Fachwerk) und 2 Verbundbrücken müssen neu errichtet werden.

Die Stahlbrücken über die Brünnerstraße
(Länge 36 m, Gewicht 170 t), über die Zufahrt Fa. ELIN (Länge 27 m, Gewicht 110 t) und über die Nordbahn (Länge 57 m, Gewicht 360 t) werden jeweils vor Ort montiert und mit Spezialkränen in die Brückenlager gehoben.

Am 21. Okt. 1998 wird mit Ober- und Gleisbauarbeiten begonnen.

Die Ausführung der Gleise auf den speziell vorbereiteten Fahrbahnplatten (Schallschutz) erfolgt nach UIC-Normen. Im Bahnhof Jedlersdorf wird die Hochbahn mit einer Weiche an das Streckengleis 2 angeschlossen, in Leopoldau über eine bestehende Weiche an das Stumpfgleis 4, eine weitere Einbindung erfolgt auf das Streckengleis 1.
Die Stromversorgung der Strecke mit 15 kV/16,7 Hz  erfolgt vom Unterwerk Floridsdorf über eine Fahrleitung der Type 2, im Dammbereich werden Betonmaste, im Viadukt- und Brückenbereich werden Stahlmaste verwendet. Sicherungstechnisch ist die Hochbahn über den Bahnhof Jedlersdorf und für den  Bahnhof Leopoldau über das Zentralstellwerk Süssenbrunn eingebunden.  Die Sicherungsanlagen im Bahnhof Jedlersdorf werden 2001 vom Zentralstellwerk Floridsdorf übernommen. Bei den Einbindungen werden Einfahrts-, Vorund Hauptsignale, in Leopoldau zusätzlich Verschubsignale errichtet. Ais Gleisfreimeldeanlage für die Güterzugschleife werden elektronische Achszähleinrichtungen verwendet.

Die Belastungsprobe wird am 1. Dez. 1998 durchgeführt. Die Reihung des Belastungszuges (für die erforderlichen Berechnungen maßgeblich) wird wie folgt festgelegt:
   1) E-Lok BR 1014 + 2 Belastungstender
   2) Diesellok BR 2050 + 2 Belastungstender
   3) E-Lok BR 1044 + Flachwagen
   4) Buffetwagen
   5) 2 Flachwagen Der Belastungszug fährt von Jedlersdorf nach Leopoldau, die in Zugmitte gereihte Diesellok 2050 übernimmt die Traktion, da noch keine Oberleitung verlegt ist. Der Zug hält an den zu überprüfenden Tragwerken, wo elektronische Messungen durchgeführt und aufgezeichnet werden.

Bauzeit: September 1996 - Mai 1999 Maximale Anzahl der beschäftigten Arbeiter/Tag: 125
Baukosten: 448 Mio. ATS

Material (im Vergleich zum Neubau 1916):
  
Hochdruckmörtel zur Sanierung der Viaduktfundamente: 4.300 m3
   Materialbewegungen im Dammbereich: 53.830 m3
   Stahlbeton für Viadukte, Brücken und Fahrbahnplatten: 13.995 m3
   Brückenstahl: 6621

Anläßlich der Eröffnung der revitalisierten "Italienerschleife" haben Persönlichkeiten aus den Lagern der Politik, Diplomatie und des ÖBB-Managements zur Geschichte dieses bemerkenswerten Verkehrsbauwerks Stellung genommen. Obwohl die Strecke schon vor mehr als 8 Jahrzehnten von Verkehrsstrategen der Donaumonarchie geplant und schließlich aus strategischen, der Kriegsführung im 1. Weltkrieg dienenden Maßnahmen, in der Rekordzeit von nur 7 Monaten gebaut worden ist, ist das revitalisierte Bauwerk heute und in Zukunft ein wesentliches Bindeglied des Schienenverkehrs.

Wir wünschen uns, daß Bauwerke in Europa nie wieder durch Zwangsarbeit und Menschenopfer entstehen sollen. Der Künstler Wander Bertoni hat mit der Skulptur "Die weinende Brücke" diese Gedanken zum Ausdruck gebracht.
<< Ein Mahnmal für die Zukunft "Die Weinende Brücke" geschaffen von Herrn Wander Bertoni.

Die Postsport Modellbahn dankt dem Verlag Vier Viertel in 2231 Straßhof - Fr. Dr. E. Ostleitner - für die freundliche Erlaubnis zur Verwendung von Bildmaterial aus der Dokumentation und den ÖBB - Hr. Ing. Klein-Wisenberg zur Unterstützung unserer Arbeit.

Anlässlich der Eröffnung der Floridsdorfer Hochbahn am 29. Mai 1999 wurde ein Briefmarken - Sonderstempel herausgegeben.
Wer mehr über dieses hochinteressante Verkehrsbauwerk wissen möchte, dem sei die Publikation "Die Floridsdorfer Hochbahn - Geschichte und Wiedererstehung der Italienerschleife", erschienen im Verlag Vier Viertel, 2231 Straßhof, Flugfeldstraße 128a empfohlen. E-Mail: office@vierviertelverlag.at

Postsport Modellbahn
Reg.Rat Helmut Kuntner